Wenn sich Gerda Palm an ihren Sohn David erinnert, denkt sie nicht in Bildern. Sie weiß nicht, wie er ausgesehen hat. Nur ein schlechtes Ultraschallfoto ist ihr geblieben. Als sie 1985 nach einer Totgeburt aus der Narkose erwacht, ist sie zunächst wie benommen. „Sie wollen doch kein Grab?“, fragen die Ärzte und reduzieren das Gewicht des toten Kindes in offiziellen Dokumenten, um ihr eine Beerdigung zu „ersparen“. Für Kinder unter 1000 Gramm gibt es damals noch kein Bestattungsrecht. Gerda Palm ist ihnen zunächst dankbar. Nur nicht daran denken, alles verdrängen. Erst einige Wochen später holt sie die Trauer ein: „Ich habe es als sehr schmerzlich empfunden, nicht wirklich Abschied nehmen zu können.“
Seitdem hat sich einiges verändert. Laut Bestattungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen haben Eltern seit 2003 das Recht, Fehlgeburten unabhängig vom Gewicht auf einem Friedhof beerdigen zu lassen. Die Krankenhäuser haben die Pflicht, die Eltern auf dieses Recht hinzuweisen. Eine Bestattungspflicht besteht aber nicht.
Gerda Palm leitet heute selbst Trauerseminare für Eltern, die eine Fehl- oder Totgeburt hinter sich haben. Rituale und Orte der Trauer sind für die Teilnehmer sehr wichtig, um den Verlust ihrer Kinder zu verarbeiten. „Wenn Angehörige und Freunde sehen, dass es eine richtige Beerdigung gibt, nehmen sie auch die Trauer der Mutter oder des Vaters ernster“, berichtet Gerda Palm. Auch bereits vorhandenen Kindern kann eine Grabstätte helfen, den Tod des mit Spannung erwarteten Geschwisterchens zu begreifen.
Auch viele Krankenhäuser pflegen mittlerweile einen offeneren Umgang mit dem Thema. An der Frauenklinik des Vinzenz-Pallotti-Hospitals in Bergisch Gladbach versucht man, die Eltern in ihrem Trauerprozess zu begleiten und respektvoll mit den toten Kindern umzugehen. Wenn die Eltern es wünschen, können sie sich Zeit nehmen, ihr Kind zu sehen, es anzufassen oder Erinnerungsstücke wie Handabdrücke oder Fotos mit nach Hause nehmen.
Heike Brüggemann vom psychosozialen Dienst der Klinik betreut Eltern nach dem frühen Verlust eines Babys. „Wenn Eltern sich gegen eine Bestattung entscheiden, dann häufig, weil sie nicht ausreichend informiert wurden“, so Brüggemann, „oft wissen sie auch nicht, dass dies nicht unbedingt mit hohen Kosten verbunden sein muss. Es gibt auch die Möglichkeit, das Kind einem bereits verstorbenen Familienangehörigen beizulegen. Wir beraten die Eltern eingehend und lassen ihnen vor allem die Zeit, sich zu entscheiden.“
Auf einem Grabfeld der Klinik haben Patientinnen des Krankenhauses die Möglichkeit, Kinder bis zur zwölften Schwangerschaftswoche zu beerdigen. Die Klinik stiftet einen großen Kieselstein, den die Eltern selbst gestalten können. Kosten fallen nicht an. Auch die Angehörigen, Großeltern oder Geschwisterkinder werden eingeladen, sich von dem toten Kind zu verabschieden. Auf Wunsch ist auch ein Pfarrer bei der Bestattung dabei. „Eine Beerdigung hilft den Eltern, die Situation konkret zu erfassen und zu begreifen“, sagt auch Dr. Simeon Korth, Chefarzt an der Frauenklinik des Vinzenz-Pallotti-Krankenhauses, „sie haben damit eine Stätte, wo sie ihr Kind aufgehoben wissen.“
Die Selbsthilfegruppe „Leere Wiege“ ist auch in der Zeit danach offen für alle, die ein Kind verloren haben. „Trauer braucht einen Ort“, weiß auch Gerda Palm heute. Auf dem Aachener Westfriedhof hat sie diesen Ort 20 Jahre später auch für ihren Sohn David gefunden. Hier können Eltern noch Jahre nach einer Fehl- oder Totgeburt einen Ort der Erinnerung schaffen. Ein Gedenkstein mit eingraviertem Namen erinnert nun auch an David. „Als ich vor diesem Stein stand“, erzählt Gerda Palm, „habe ich mich sehr erleichtert gefühlt.“
Kölner Stadt-Anzeiger, von Alice Ahlers, 04.04.2008, 21:03 Uhr