Auf den ersten Blick scheint es, als könnten Freunde und Nachbarn nur wenig tun, wenn nebenan der Tod einschlägt. Doch dieses Wenige schafft für Trauernde ein Netz, das sie trägt und vor Vereinsamung bewahrt.
Zweiter Weihnachtstag. Familienfeiern und der Stress, der damit einher geht, liegen hinter, zwei Wochen Urlaub vor mir. Ich freue mich darauf auszuspannen, abzuschalten, eine Zeit lang Abstand zu nehmen von meiner Arbeit als Trauerbegleiterin, die viele Energien von mir fordert. Endlich einmal Urlaub von der Trauer.
Nach einem langen Spaziergang mit Mann und Kindern durch den winterlichen Wald freue ich mich auf einen gemütlichen Tag mit neuen Büchern auf dem Sofa. Vorher jedoch zieht es mich aus unerfindlichem Grund zu meinem »Diensttelefon«, auf dem ich vorsorglich meine Urlaubsansage hinterlassen habe; ich möchte in diesen Tagen möglichst wenig gestört werden. Es gibt auch nur eine Nachricht, aber die zieht mir fast den Boden unter den Füßen weg. Der Bruder von Anna, einer guten Bekannten, teilt mir mit gebrochener Stimme mit, dass Anna und ihre drei Kinder vor ein paar Stunden mit dem Auto verunglückt sind, auf dem Weg zum Weihnachtsbesuch bei den Großeltern. Bei Glatteis war der Wagen außer Kontrolle geraten und gegen einen Baum geprallt. Joschi, der älteste Sohn, war sofort tot, die beiden anderen Kinder schwer verletzt, Anna selbst körperlich unversehrt. Sie hatte darum gebeten, dass man mich sofort benachrichtigt.
Der erste Impuls: Ich stelle mich tot
Mir ist sofort klar: Hier bin ich nicht als professionelle Trauerbegleiterin angefragt, sondern als Freundin der Familie, als Mensch … Und ich reagiere auch ganz »unprofessionell« – mit Abwehr, Panik, Hilflosigkeit. Fühle mich total überfordert mit dieser Nachricht. Mein erster Impuls ist, mich »totzustellen«, so zu tun, als hätte ich den Anrufbeantworter nicht abgehört. Beschämt verwerfe ich diesen Gedanken sogleich wieder. Aber was soll ich tun? Was wird von mir erwartet? Ich bin selbst so schockiert, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Ich weiß nicht einmal, wie und wo ich meine Freunde erreichen kann. Der Bruder hat mir in der Aufregung nichts hinterlassen.
Meine Familie ruft mich zum Tee. Bleich, zitternd und weinend erzähle ich von dem Unglück; meine Kinder weinen mit mir. Fieberhaft suche ich das letzte Foto von Joschi heraus, stelle es auf den Tisch und entzünde eine Kerze davor. Er war so alt wie mein Sohn. Ganz allmählich wird mir klar, dass Joschi nicht mehr lebt. Voller Entsetzen denke ich daran, welch ein schwerer Weg jetzt vor dieser trauernden Familie liegt.
Immerhin: Meine jahrelangen Erfahrungen als Trauerbegleiterin kommen mir zu Gute. Das Wichtigste, was ich gelernt habe, ist Demut. Ich weiß: Ich kann die Schmerzen eines Trauernden nicht verringern, kann in dieser Situation nichts sagen, was trösten kann. In den Vätersprüchen der Juden heißt es: »Tröste deinen Freund nicht, solange sein Toter vor ihm liegt.«
Entlastung durch Helfer von außen
Trotzdem bin ich, sind wir, Freunde, Angehörige, Nachbarn, Kollegen beim »Tod nebenan« unentbehrlich. Wir könnten einfach hingehen zu den Trauernden, den Raum der Trauer betreten (im wörtlichen und im übertragenen Sinn), da sein, bei ihnen bleiben, ihre Untröstlichkeit, ihre Tränen oder ihre Versteinerung aushalten, ihre Fragen ertragen, auf die es keine Antwort gibt, die aber dennoch gestellt werden müssen, immer wieder, um das Unfassbare fassbar zu machen.
Es sieht vielleicht zunächst so aus, als könnten wir nur wenig tun. Aber das Wenige bewirkt viel, schafft in vielen Fällen ein tragendes Netz zwischenmenschlicher Beziehungen, das der mitunter tödlichen Einsamkeit Trauernder entgegenwirkt.
Durch den Tod eines Mitglieds wird ein System zum Trauersystem. Die Aufgaben, Rollen und Beziehungen in einer Familie werden durch den Verlust erschüttert und beeinträchtigt, müssen neu geordnet werden. Das stellt hohe Anforderungen an das familiäre System und seine Anpassungsfähigkeit, und oft können die Trauerbedingten Aufgaben nicht erfüllt werden. Eine Entlastung könnte darin bestehen, dass ein Teil dieser Aufgaben nach außen verlagert und von Freunden, »entfernteren« Angehörigen oder auch von professionellen Helfern übernommen wird. Eine wichtige Funktion erfüllen dabei heutzutage Trauergruppen. Wo in der alltäglichen Umwelt soziale Räume fehlen, in denen Trauer gezeigt und gelebt werden kann, dienen sie als Ersatz oder Erweiterung des Trauersystems.
Hilfreich: das Trauergenogramm
Der Verlauf eines Trauerprozesses wird maßgeblich davon beeinflusst, wie viel Unterstützung Trauernde in ihrem sozialen Umfeld finden; das zeigen viele Erfahrungen. Als systemische Beraterin versuche ich deshalb, nicht nur den einzelnen Trauernden in den Blick zu nehmen, sondern sein ganzes familiäres System miteinzubeziehen. Eine hilfreiche Methode dabei ist das von mir entwickelte Trauergenogramm, eine grafische Darstellung der Familienstruktur und ihres Trauersystems. Basierend auf der Methode der Genogrammarbeit kann es dazu beitragen, Fakten in Familienstrukturen und Trauerprozessen anschaulich und damit für die weitere Beratung nutzbar zu machen. Dabei wird der Blick vor allem auf die Aspekte gelenkt, die für den Trauerprozess von Bedeutung sind. Das Familiensystem wird mit dem Trauersystem verbunden und so erweitert um jene Personen, die nicht zur Familien gehören, aber »mit«trauern.
Diese abgebildeten Trauergenogramme sind im Laufe einer systemischen Beratung mit einer jungen Witwe entstanden. Vor zehn Jahren hatte sie ihr erstes Kind in der 38. Schwangerschaftswoche verloren. Im ersten Trauergenogramm wird deutlich, dass nahezu das gesamte Familiensystem zum Trauersystem wird. Das ist nicht immer so; gerade bei einem frühen Kindstod versagt das Familiensystem oft. Die Trauer um ein totgeborenes Kind ist für die Eltern meistens eine sehr einsame Trauer. Niemand außer ihnen hat das Kind kennen gelernt; seine Existenz wird oft nicht anerkannt, und heutige Trauerreaktionen werden vom Umfeld meist nicht akzeptiert. So ist eine Trauergruppe von Gleichbetroffenen oft der einzige Raum, in dem die Muster der Sprachlosigkeit und des Verdrängens durchbrochen werden können.
Das zweite Trauergenogramm zeigt Utes Situation neun Jahre später, zum Zeitpunkt der Beerdigung ihres Ehemanns Klaus, der nach längerer Krankheit und einer intensiven Phase des Abschiednehmens gestorben war. Außer der Familie gibt es nun ein großes Trauersystem, das heißt zahlreiche Mittrauernde, die für Ute in der ersten Phase der Trauer ein tragendes Netz der Unterstützung bilden.
Im dritten Genogramm, ein Jahr nach Klaus‘ Tod, wird deutlich, dass das Trauersystem erheblich geschrumpft ist; nur noch die nächsten Angehörigen und ein paar treue Freunde gehören dazu. Dagegen gewinnen Außenstehende wie die Therapeutin oder Mitglieder einer Trauergruppe eine größere Bedeutung.
Ute selbst beklagt in diesem Zusammenhang die Auseinanderklaffen von ihrem Bedürfnis nach Unterstützung und der Bereitschaft ihrer »Nächsten«, sich heute noch auf ihre Trauer einzulassen. Die meisten haben den Eindruck, dass Ute alles »total gut im Griff« hat. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen und wirkt stark und ausgeglichen. Utes selbst empfindet das jedoch anders: Sie fühlt sich oft sehr einsam und überfordert mit den Aufgaben, die sie nun allein bewältigen muss. Sie würde gerne öfter mit anderen über Klaus sprechen, Erinnerungen an gemeinsame Zeiten wachrufen. Aber es scheint ihr oft so, als würden die Menschen in ihrem Umfeld, zum Teil auch Freunde, Freundinnen oder nahe Angehörige dieses Thema meiden – als hätten sie Angst, Ute an ihren Verlust »zu erinnern«.
Als »Helfer von nebenan« sollten wir uns bewusst machen, dass Trauer ein langwieriger Prozess ist und erheblich mehr Zeit und Energie beansprucht, als die Trauernden selbst und die sie umgebenden Menschen zunächst erwarten. Damit der Trauerschmerz allmählich heilt, müssen im Laufe der Zeit verschiedene »Traueraufgaben« erfüllt werden:
- die Realität des Todes akzeptieren
- den Trauerschmerz durchleben und alle damit verbundenen Gefühle zulassen
- sich an ein Leben ohne den Verstorbenen anpassen
- sich allmählich von dem Verstorbenen lösen und die dadurch freigesetzten Energien in andere Lebensbereiche oder Beziehungen investieren
Die eigenen Grenzen und Stärken beachten
Das alles bedeutet Schwerstarbeit für die Seele und für die Begleiter von Trauernden das Sich-Einlassen auf einen langen und schmerzhaften Entwicklungsprozess. Dabei sollten wir versuchen, uns selbst nicht zu überfordern und eigene Grenzen zu respektieren – aber auch, unsere individuellen Stärken zu beachten. Zum Beispiel ist es manchen Menschen »gegeben«, erste Hilfe in der akuten Verlustsituation zu leisten – was vor allem bedeutet, Schock und Sprachlosigkeit oder aber auch heftigste Schmerzausbrüche der Trauernden auszuhalten, durch Gesten und Körperkontakt (Umarmung, Hand halten) Gefühle sichtbar zu machen und mitzuteilen, die noch nicht angemessen in Worte gefasst werden können. Für andere ist es einfacher, praktische Unterstützung zu geben und alltägliche Notwendigkeiten zu übernehmen, zu denen Trauernden die Kraft fehlt.
Im weiteren Verlauf der Trauer muss es Menschen geben, die zur »Nach-Sorge« befähigt sind – die dann in Erscheinung treten, wenn der Verlust für Außenstehende »kein Thema« mehr ist, für die trauernden Angehörigen dagegen immer noch allgegenwärtige Realität. Die meisten Trauernden sind auch nach Jahren noch dankbar, wenn über den Verstorbenen gesprochen wird, wenn sie ihre Erinnerungen an ihn mit jemanden teilen können.
Tod und Trauer sind Bestandteile unseres Lebens und können uns jederzeit begegnen. Wir sollten also darauf vorbereitet sein, Menschen in unserer Umgebung in ihrer Trauer zu unterstützen. Wenn wir unser Herz und unsere Sinne öffnen und authentisch reagieren, werden wir beim »Tod nebenan« das Richtige tun.
Gerda Palm